Seit einigen Jahren schon bereichern die sommerlichen Musiktheater-Aufführungen der Universität der Künste nicht nur das beginnende Opern-Sommerloch sondern bedeuten auch eine echte inhaltliche Bereicherung des Spielplanangebots zu jenem der drei Berliner Opernhäuser. Der rührige Opernmeister Errico Fresis hat dabei bereits eine ganze Reihe spannender Opernpartituren teils neu ins Bewusstsein gerückt, teils zum ersten Mal vorgestellt. In diesem Jahr gab es gleich zwei Premieren, die in unterschiedlichen Besetzungen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ihre deutsche Erstaufführung erlebten.
04.07.2021 – Von Peter P. Pachl
„Georgia Bottoms“
In Gregory Vajdas Oper mit dem doppeldeutigen Titel „Georgia Bottoms“, nach dem gleichnamigen Roman von Mark Childress, geht es um eine junge Frau in Six Points, die mit allen Honoratioren der Kleinstadt sexuelle Verhältnisse hat. Sie ermöglichen ihr das wirtschaftliche Überleben, aber ihr farbiges Mischlingsbaby musste sie in eine andere Kleinstadt verfrachten. Der Sohn Nathan taucht dann als 19-Jähriger plötzlich bei ihr auf – und bringt Georgia dazu, alle Doppelbödigkeiten aufzugeben, sich und die Würdenträger in der Baptistengemeinde zu outen und Six Points zu verlassen.
„Betont“, das Label der UDK der Fakultät Musik, weist zu Beginn des Live Streamings per Texteinblendung darauf hin, dass diese Produktionen unter Corona-Bedingungen entstanden sind. Deutlich erschwert wurden auch die Bedingungen des Dirigenten: um enormen Aufwand an speziellen Desinfektionsgeräten zu vermeiden, wurde auf Microports verzichtet, und die Balance zwischen Orchester und den mit Mikros im Raum eingefangenen Gesangsstimmen blieb allein der Tonabteilung überlassen.
Und auch die Regie hatte es – gerade bei Opern um diverse intensive zwischenmenschliche Beziehungen – nicht einfach, zumal die Solist*innen beim Singen einen Abstand von 6 (!) Metern einzuhalten hatten.
Der vordere Teil des Auditoriums ist nicht mit Besucher*innen besetzt, sondern die dort positionierten einzelnen Stühle bilden den Kirchenraum der Baptistengemeinde. Der Orchestergraben ist partiell mit Podesten hochgebockt und dient ebenso als Spielfläche für die zehn Sängerdarsteller*innen, wie das Proszenium und der vordere Bühnenraum, während das Orchester, diesmal das ensemble unitedberlin, auf der Mitte der Bühne positioniert ist. Darüber leuchten drei große, abstrakte Kirchenfenster und werfen farbige Reflexe auf die Spielfläche (Bühne: Paula Meuthen und Madalena Wallenstein de Castro). Originell sind die auf die Vorderseiten weißer Überzieher aufgemalten Kostüme von Vera Holthaus. Die Klänge von Gregory Vajdas Partitur sind geschichtet, situationsbedingt mit Glocken beginnend und atmosphärisch mit gezupften Instrumenten fortführend, gut ausgewogen, mit U-Musik-Einsprengseln und tonal endend, wenn auch unter Aussparung eines Schlussakkordes. Besonders eindrucksvoll gelingt unter der beherzten musikalischen Leitung von Errico Fresis ein Zwischenspiel des Orchesters. Musikalisch im Gedächtnis bleibt ein sonderbares Abendlied, das Duett der Liebhaber Georgias sowie ein ungewöhnliches Brief-Duett in der Tradition dieser Form seit Mozarts „Figaro“: Georgia liest den Brief ihres jüngsten Lovers, des neuen Priesters, den dieser unter ihrem Kopfkissen zurückgelassen hat, während er selbst den von ihm geschriebenen Text singend vorträgt.
Regisseurin Isabel Hindersin hat die Handlung am 11. September 2001 angesiedelt, mit jenen bekannten Bildern vom World Trade Center auf einem TV-Apparat, den die greise Mutter Georgias verfolgt; und Georgia kommentiert, „Mama, this is not a movie, this is real live!“ Die Mutter (Natalie Jurk) bewegt sich im Rollstuhl; nur einmal sieht man sie mit dem Klavierauszug in der Gasse stehend, um einen Schrei zu produzieren (V-Effekt oder ein Versehen?).
Gespielt wird häufig mit unterschiedlich großen Stoffbällen, deren Bedeutung (denn nur „einander die Bälle zuschieben“ kann wohl kaum gemeint sein) sich dem Rezensenten eben so wenig erschließen mochte, wie die auf beiden Seiten des Bühnenportals angebrachten Leuchtröhren als Strich-Abzählordnung.
Die Bürgermeisterin singt einmal, mit der Knarre in der Hand auf der Beleuchtungsbrücke, und der Politiker zeigt unter dem gemalten Überkostüm ein SM-Leder-Outfit, mit umgeschnalltem, schwarzem Phallus.
Georgias Sohn Nathan (rappend: Kento Uchiyama), der als Einziger in einem unbemalten, schicken weißen Anzug auftritt, ist jedoch – und da wird die Erzählweise bei aller political correctness doch fragwürdig – in keiner Weise als farbiger Außenseiter gekennzeichnet, auch wenn er ständig als solcher besungen und diskutiert wird.
Nachdem Georgia sich geoutet hat, fährt sie mit ihrer gedächtnisschwachen Mutter und dem Sohn im Auto nach New Orleans – hier angedeutet durch ein Steuerrad, welches die Protagonistin in den Händen hält. Dass diese Schlussszene, mit heftigem Einsatz der Windmaschine und Marimbaphon-Klängen vergleichsweise wenig überzeugend gerät, ist wohl zum Teil auch den Abstandsregeln geschuldet.
Die jungen Darsteller*innen (und die manchmal für die Darstellung der alten Herrren zu jungen Darsteller) spielen mit Engagement und singen durchaus rollengemäß, wobei insbesondere Ambar Arias in der Titelpartie mit großer Souveränität hervorsticht. Auch Antonia Schuchardt vermag als Brenda Hendrix, die ihre Stadt verlassende Bürgermeisterin, zu überzeugen, bei den Herren die beiden überzeichneten Reverends, Carlo Nevio Wilfart und Pablo Helmbold sowie der Bassist Eunsang Lee in zwei Partien.
„Frühling, Erwachen“
Was wäre das Musiktheater ohne Frank Wedekind, ohne den Dauerbrenner und der auf seinen beiden „Lulu“-Dramen basierenden Oper Alban Bergs sowie den immer wieder neuen Bearbeitungen von dessen nicht mehr vollendetem 3. Akt. Angesichts einer Vertonung von „Frühlings Erwachen“, das im anglisierten Titel das Genitiv-S zugunsten eines Kommas verloren hat, müsste der alte Theater-Witz, das Gegenteil von „Frühlings Erwachen“ sei „Spät rechts Einschlafen“, wohl zu „recht spät einschlafen“ geändert werden – aber damit täte man der musikdramatischen Spielvorlage wahrlich Unrecht.
Das Ringen von Errico Fresis und Nóra Füzi um ein deutsches Libretto, als der ins Heute verlagerten Wedekind-(Rück-)Übersetzung aus dem Ungarischen des András Almási-Tóth, wird an Diskrepanzen zwischen den Untertiteln und der tatsächlichen Wortwahl der Gesänge deutlich.
Dem identischen Produktionsteam wie bei „Georgia Bottoms“ und den teilweise auch identischen Sängerdarsteller*innen ist die zweite Produktion merklich besser gelungen. Dabei ist das Bühnenbild einfacher gehalten, mit Projektionen auf unterschiedlich große Schleier, einem Wassertuch auf dem abgesenkten Orchestergraben (inklusive Wasserprojektion auf dem Boden), später ein schematisches, metallenes Bäumchen (mit Assoziation an Beckets „Warten auf Godot“) und eine grabsteinartige Schultafel, auf welcher Wendla mit Kreide ein Kreuz, ihre Namen und ihre Labensdaten „2007-2021“ aufzeichnet, bevor die Vierzehnjährige als Folge einer hier von ihr selbst vorgenommenen Abtreibung in den Tod geht.Die drei männlichen Schülerjungen tragen Krawatten zu Shorts, die drei Mädchen am Anfang rosafarbene Kleider.
Die Qualitätssteigerung am zweiten Opernabend gelingt jedoch insbesondere dank der Partitur von Máté Bella, einer funktionalen Opernmusik, süffig und weitgehend tonal. Die Musiksprache wird zunächst von aggressivem Jugend-Drang vorangetrieben, bald untermischt mit einem Marschrhythmus des Gefüges der Umwelt. Drei Stimmen aus dem Off klingen wie summende Chöre á la Franz Schreker, und Bellas Orgasmus-Musik ertönt in bester Schreker-Tradition. Stimmungsfördernd und eindrucksvoll das Abschiedsduett des jungen, frühlingserwachten Paares, „Wind würgt die Engel“, bei dem eine Glocke lange nachklingt.
Ebenfalls besser als am Vorabend gelingt das Spiel mit den Abständen: einmal als schwule Szene von Hänschen (Pablo Helmbold), der seinem Partner nur als Schatten nahekommt: nur deren Schattenrisse auf einem Schleier in Bühnenmitte lässt sie Händchen halten, sich streicheln und küssen.
Auch die Vergewaltigung Wendlas durch Melchior als drastischem Kampf und anschließender ausgiebiger Geschlechtsverkehr vermag trotz der raumversetzten Akteure zu überzeugen.
Moritz rennt gegen die Wand (das Bühnenportal) an, und der 18 Meter hoch eingesperrte Melchior agiert auf der Beleuchterbrücke; von dort widerspricht er den Entschuldigungsversuchen seiner Mutter (Xiao Chi) gegenüber der Lehrerin, mit „Dein Sohn hat gefickt!“, und der Lehrerin attestiert er: „Die hätte ich auch mal ficken sollen, das ist ihr Problem… Nutte!“
Chunho You als Melchior ist großartig in Spiel und Stimmführung, obendrein bietet er exzellente Textverständlichkeit, so auch Kyoungloul Kim als Moritz. Lyrisch schöne Ariosi der Wendla von Marie Sofie Jacob, die sich vom aufmüpfigen Mädchen bis zur traurigen Schwangeren mit blutigen Abtreibungsfolgen entwickelt, bis sie mit blutigem Kleid ins Wasser geht und in der Versenkung verschwindet. Stärker noch als am Vorabend überzeugt diesmal Antonia Schuchardt in einer Doppelrolle als geiles Modell Ilse und als hysterische Lehrerin, die in der Oper den größeren Lehrkörper des Dramas vertritt.
Auch die Geister-Erscheinung des kopflosen Moritz, der anfangs viel von einem Märchen seiner Großmutter über eine kopflose Prinzessin und einen doppelköpfigen Prinzen räsoniert hatte, ist stimmig, wie auch der Auftritt des vermummten Herrn (Ruiling Hu), der in der Uraufführung des Dramas vom Dichter dargestellt wurde; hier springt er mit Violine quasi aus dem Orchester heraus, trennt mit seinem Violinbogen Melchior und Moritz und scheidet so den Tod vom Leben, woraufhin Moritz ebenfalls auf Nimmerwiedersehen versinkt.
Das hintere Auditorium war bei den insgesamt vier Vorstellungen den Mitgliedern der Prüfungskommission, Assistent*innen und sonstigen Mitwirkenden und Lehrenden vorbehalten; die geizten am Ende der Aufführungen mit nicht mit Beifall und Bravorufen. Dem dürften sich die Zuschauer*innen an den häuslichen PC-Bildschirmen angeschlossen haben.